Buchneuvorstellung
von Asher D. Biemann
Das Jahr 1945 wurde oft als Epochenscheide, als „Stunde Null“ betrachtet. Aus den Trümmern des Krieges entstand ein neues Menschenbild, das sich manchmal, etwa bei Karl Jaspers oder Marie Luise Kaschnitz, im gemeinsamen Ursprung „in Adam“ begründete. Humanismus und Menscheneinheit wurden, wie Victor Klemperer bemerkte, bald zur Phrase. Doch zum Schicksal der europäischen Jüdinnen und Juden schwiegen oft die neuen Humanisten.
Wie verstanden jüdische Intellektuelle – ob Emigranten, Überlebende, Rückkehrende – die „Einheit des Menschengeschlechts“ in einer Zeit tiefster Krise, Enttäuschung und Weltverlassenheit? Dieser Essay vereinigt eine oft dissonante Vielfalt von Stimmen von Adorno zu Günther Anders und Hannah Arendt, von Leo Baeck zu Hermann Broch, Max Brod und Martin Buber, von Ernst Cassirer zu Hermann Levin Goldschmidt, Hans Jonas und Masha Kaléko, von Arthur Liebert zu Karl Löwith und Margarete Susman. Was diese Stimmen vereint, ist das Postulat und zugleich die Fraglichkeit einer Menscheneinheit, worin sich die aufklärerische Idee der „Brüderlichkeit“ kritisch widerspiegelte. So schufen diese Denker und Denkerinnen schwache Kontinuitäten mit einem deutsch jüdischen Erbe, das die Menschheit nicht als gegeben, sondern als aufgegeben verstand: Eine Aufgabe zwischen dem „Unzerstörbaren“ im Menschen und dessen absoluter Zerstörbarkeit.
Asher D. Biemann ist Edgar M. Bronfman Professor für moderne jüdische Philosophie und Geistesgeschichte an der University of Virginia, USA. Autor von Inventing New Beginnings: On the Idea of Renaissance in Modern Judaism (2009), Dreaming of Michelangelo: Jewish Variations on a Modern Theme (2012) und, mit Richard I. Cohen und Sarah E. Wobick-Segev, Spiritual Homelands: The Cultural Experience of Exile, Place and Displacement Among Jews and Others (2020).
Neuerscheinung:
Asher D. Biemann: Die verlorene Einheit des Menschengeschlechts. Zu einer Figur (deutsch) jüdischen Denkens um 1945 (=Vorlesungen des Centrums für Jüdische Studien der Universität Graz, Band 16), Geb. 184 Seiten (ISBN: 978-3-903425-30-9), CLIO: Graz 2025
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